Frau von Helmolt - Sonderschullehrerin an der Ernst-Klee-Schule von 1980-2015

Eine lebendige Schule

Erinnerungen an besondere Momente vor 30 und mehr Jahren

Als ich hörte, dass anlässlich des 40. Jubiläums der Ernst-Klee-Schule Beiträge für die Website gesucht würden, tauchten bei mir sofort Erinnerungen auf.

Keine Erinnerungen an den Unterricht mit Lesen, Rechnen und Schreiben, sondern ganz andere Erlebnisse und Eindrücke wurden wieder lebendig.

Kurz vor der Schuleröffnung am 1. August1980 bekam ich einen Anruf von dem Schulrat aus dem Steinfurter Schulamt. Für die neue Schule in Mettingen gäbe es bereits eine Schulleiterin, zwei Erzieherinnen, eine Vorschullehrerin, eine Physiotherapeutin, eine Sekretärin, eine Hauswirtschafterin und einen Hausmeister. Nun käme ich als Sonderschullehrerin noch dazu und würde hiermit für die erste Konferenz am Freitag vor der kommenden Schuleröffnung eingeladen. Da alles in Bewegung sei und auch die Handwerker noch viel zu tun hätten, solle ich am besten einen Besen zum Putzen mitbringen, damit wir alles für die Schuleröffnung vorbereiten könnten.

Alles lief wie geplant: Am1. August kamen unsere ersten 18 Schülerinnen und Schüler und wir starteten gleich mit drei Klassen. In meiner Klasse standen bereits Schülertische und Stühle. Schränke gab es noch nicht und deshalb legten wir alles, was wir für unsere Ausstattung bereits zusammengestellt hatten, sorgfältig geordnet auf den Fußboden.

Alle waren hoch motiviert und in den nächsten Wochen arbeiteten wir

„rund um die Uhr“. Alles wuchs von Tag zu Tag und wir entwickelten viele neue Strukturen. Die häufigen Konferenzen gingen oft über mehrere Stunden und sogar an einem Wochenende arbeiteten wir mal an der Nordsee, um unser Förder- und Schulkonzept zu entwickeln.

Die Schule war schon damals sehr vielfältig aufgestellt. So wurde das Schulgebäude auch von einer ausgelagerten Klasse der Don-Bosco-Schule und von einer Klasse mit Schifferkindern aus dem Schiffer-Kinderheim benutzt. Um die Schifferkinder gab es immer ein kleines Geheimnis, auf dem Schulhof begegneten wir uns nie, vielleicht fanden wir uns auch gegenseitig ein wenig exotisch. Die Pflanzbereiche und Hecken des Schulhofes waren für unsere

Schülerinnen und Schüler die Chance, sich in selbst gestalteten Höhlen und Gängen ein wenig Eigenständigkeit, ganz praktische Lebenserfahrungen und auch kleine Momente mit Aufregung und Abenteuer zu verschaffen. Das Wort

Recycling war noch ein Fremdwort, nicht aber die sinnvolle Wieder-verwendung von Rohstoffen. So wurden die Essensresten aus unserer Schulküche der Krankenhausküche zugeführt und im nächsten Schritt an Mettinger Schweine verfüttert.

Ein ganz besonderer Schatz der neuen Schule war unser großer Schulgarten, eine idyllische Obstwiese, auf der heute etliche Häuser stehen. Dort konnten wir mit unserer Klasse einen kleinen Garten anlegen, uns in den Pausen in den Schatten unter Apfelbäume legen und im Herbst Obst ernten. Auch in der Klasse wurde es sehr lebendig. Manche Zimmerpflanzen hatten eine Höhe von zwei Metern und es gab Meerschweinchen, die von einem Schüler an den Wochenenden mit nach Hause genommen wurden.

Um mit den neuesten Erkenntnissen für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit schweren Behinderungen vertraut zu sein, fuhr ich mit meiner Teampartnerin Gunhild für drei Tage in das Fröhlich-Zentrum nach Rheinland-Pfalz. Uns leuchtete sofort ein, dass alle Förderangebote zunächst über die Sinne gehen müssen und die Welt und alle Erkenntnisse nur über praktische Alltagshandlungen erfahren werden können.

So planten wir dann mit sehr viel Mut und Leidenschaft unsere erste Klassenfahrt. Wir hatten ein altes Heuerhaus in Holdorf gemietet. Ein Haus mit engen Türen und so einigen Barrieren. Das hielt uns aber nicht davon ab, dort eine Woche als Selbstversorger einschließlich einer Heuernte verbringen zu wollen. Die Pflege und Versorgung unserer einzigen Schülerin und der übrigen sechs Schüler sowie Kochen, Tischdecken und Spülen forderte uns total. Unsere Mahlzeiten fanden notgedrungen oft sehr spät statt, aber es schmeckte uns immer gut und alle wurden satt.

Da auch die Heuernte ursprünglich und hautnah ablaufen sollte, hatte ich vorher geübt, mit einer Sense zu mähen. Das Holdorfer Gras erwies sich leider als wenig zart und verlangte dann zusätzlich zum Heben, Tragen und Lagern unserer Schüler den vollen Einsatz meiner letzten Körperkräfte. Aber der Wettergott verwöhnte uns in dieser Woche und nach ein paar Tagen duftete das Heu großartig.

Die Natur wollten wir auch einer anderen späteren Klasse ganz unmittelbar zugänglich machen. Wir planten einen Picknick-Ausflug mit Fahrrädern und Rollstühlen in den Mettinger Muckhorst. Das Wetter war an einem Tag im Frühsommer sehr schön, alles grünte und blühte und fanden wir an einem Wegesrand eine schöne Wiese.

Wir breiteten unsere Decken aus und nachdem alle einen gemütlichen Lagerplatz gefunden hatten sahen wir, wie am anderen Ende der großen Wiese plötzlich eine Rinderherde im Galopp auf uns zulief. Blitzschnell gab es die Ansage: Lauft, krabbelt und alle anderen schnell in die Rollstühle. Wir schafften es auch, unser Picknick-Equipment zu retten und beschlossen, zur Schule zurückzukehren und dort zu essen.

Unser Weg führte über eine abschüssige Straße, welche direkt auf einen Bauernhof zulief. Wir hatten unserer Klasse ja gesagt, dass alles ganz schnell gehen müsse und so nahm ein Schüler dann die Füße von den Pedalen seines Dreirades herunter und gewann immer schneller an Tempo, direkt auf die Hofmauer zu. Unsere Rufe nutzten nichts, das Rad war schneller als die Rinderherde zuvor. Aber Michael Bäcker war noch schneller und konnte das Dreirad kurz vor der Hofmauer einholen und stoppen.

Obwohl wir mit Ausflügen und Klassenfahrten ja viele Erfahrungen gesammelt hatten, blieben wir solchen Aktionen treu, auch wenn wir wussten, dass wir nach solchen täglichen 16-Stunden-Einsätzen in der Regel völlig erschöpft waren. Manchmal wünschten uns Eltern bei der Abreise auch einen schönen Urlaub.

Die Herausforderungen verlagerten sich, wenn wir z.B. mit einer Oberstufen-klasse unterwegs waren. Dann gab es auch in den Abendstunden spannende Unternehmungen, die schon mal mit Überraschungen enden konnten. So wurde die Aufzugfahrt am Wittenbergplatz für eine kleine Gruppe eine ziemliche Herausforderung. Mitten zwischen Ober- und Erdgeschoss stockte der Aufzug und es ging nicht mehr weiter. Über den Notruf erfuhren wir, dass es mit der Hilfe länger dauern könne, da es ja schon fast 22.00 Uhr sei. Im engen Aufzug wurden dann Überlegungen angestellt, ob wir überhaupt wohl noch herauskommen könnten. Wir bräuchten nun auch mehr Platz im Aufzug, auch die Luft würde uns irgendwann ausgehen und dann noch ein eindringliches: Ich muss p…….

Intuitiv entwickelte ich verschiedene Strategien zur Deeskalation. Nach einer halben Stunde ging die Fahrt dann weiter und der Berliner Monteur meinte wenig erfreut: Warum steigt ihr auch mit mehreren Leuten in diesen Aufzug…….

Einmal fuhren wir mit zwei Klassen für eine Woche nach Emden und zu unserem Programm gehörte auch eine Hafenrundfahrt in einem kleinen Passagierschiff. Ich saß mit einigen Schüler direkt hinter dem Steuerbord und fragte den Kapitän, ob es kompliziert sei, ein solches Schiff zu lenken. Er sagte, das wäre sehr einfach und ich solle die Chance doch ergreifen. Ein wenig ungläubig, aber auch neugierig, übernahm ich dann das Steuerrad. Ein Schüler fragte mich sehr aufgeregt: Ey, willst du das wirklich machen? Vielleicht wollte ich unbewusst versuchen, meine Wasserangst zu bewältigen. Sehr schnell merkte ich, wie das Schiff anfing, ein wenig zu schlingern, erst ganz zart - fast wie Autofahren auf einer vereisten Straße - und dann so, dass evtl. alle denken konnten, in Emden würde nun ein stärkerer Wellengang einsetzen. Als meine Steuerbemühungen und auch die Wellenbewegungen zunahmen, legte sich zum Glück die Hand des Kapitäns auf das Steuer. Er lachte herzhaft, kommentarlos, und ich setzte mich schnell wieder auf meinen Passagiersitz. 

So gab es bis zum Ende des letzten Jahrtausends viele Situationen und Erfahrungen, die mir sicher immer in Erinnerung bleiben werden und heute vermutlich undenkbar wären.

Das Leben mit unseren Kindern und Jugendlichen verlief manchmal unmittelbarer und aufregender, weniger virtuell und sehr real, weniger reglementiert und trotzdem genauso fördernd und sicher wie heute. Überraschungen, Freude und Spaß kamen dabei auch nicht zu kurz.

Agnes von Helmolt